"Du bist ja krank, du Idiot!"
In der Szenischen Re-Integration (SRI) arbeitet man sich mit nie gesagten und nie gehörten Sätzen zu neuen Ufern vor. Aus
Hass kann wieder Liebe werden.
von Loil Neidhöfer
Die elfjährige Susanne kommt mit einer Eins nach Hause und läuft damit voller Stolz, aber auch mit - berechtigter - banger Ungewißheit zum Vater. Der Vater wirft einen Blick darauf und sagt: "Wie schlecht müssen dann erst die anderen Arbeiten gewesen sein!" und schaut wieder in seine Zeitung. Susanne stockt der Atem, sie ringt nach Worten. Empörung und Wut steigen hoch. Aber sie bringt keinen Ton heraus. Der Vater schickt sie weg: "Jetzt laß mich hier mal meine Zeitung lesen." Susanne weiß nicht wohin. Die Mutter wigelt ab: das meint er doch nicht so. Die Schwester läßt ihrer Schadenfreude freien Lauf. In der Nacht schläft Susanne kaum. Es hat schon viele ähnliche Vorfälle mit dem Vater gegeben, aber diesmal ist eine Linie überschritten. Erstmals fühlt sie etwas in sich, was Jahre später als Depression diagnostiziert wird. Jahre später, als auf ihrem Lebenskonto bereits eine Tablettenabhängigkeit, diverse Krankheiten und unglückliche Beziehungen notiert sind.
Heute ist Susanne 37 Jahre alt. Sie nimmt an einem unserer SRI-Workshops teil und sitzt vor der Gruppe auf der Bühne. Niemand ist zu irgendetwas verpflichtet. Es ist ok, nur anwesend zu sein. Aber wer etwas inszenieren will, fängt mit diesem ersten Schritt an und erzählt seine Erinnerung. Dort zu sitzen, vor der Gruppe, und seine Geschichte zu erzählen: das allein ist für viele schon ein großer Schritt mit heilsamer Auswirkung. Susanne erzählt ihre Erinnerung. Sie ringt nach Atem, die Tränen steigen ihr hoch. Das Publikum, die Gruppe, kann sich dem nicht entziehen. Zu unmittelbar ist der emotionale impact ihrer Schilderung. Dann wird Susanne vom Gruppenleiter aufgefordert, einen Satz zu finden, den sie dem Vater in dieser konkreten Situation heute sagen würde. Als Kind war sie sprachlos. Aber was würde sie heute sagen? Als Kind, aber mit ihrem Wissen und ihrer Lebenserfahrung von heute? Susanne überlegt einen Moment. Der Satz heißt: "Du bist ja krank, du Idiot."
Der Gruppenleiter schlägt ihr vor, diese Szene zu inszenieren. Es braucht eine Susanne, einen Vater, später vielleicht noch eine Mutter und eine Schwester. Aber wir fangen an mit dem Vater und Susanne. Susanne bittet eine Frau aus der Gruppe, die elfjährige Susanne auf der Bühne zu spielen. Und sie bittet einen der Teilnehmer, die Rolle des Vaters zu übernehmen. Anschließend platziert sie die Figuren auf der Spielfläche. Dann setzt sie sich ins Publikum. Sie hat jetzt nichts mehr zu arrangieren und inszenieren. Ihr Job ist es einzig und allein, das Geschehen auf der Bühne auf sich wirken lassen. Die Spielleitung hat der Gruppenleiter.
Der "Vater" sitzt auf einem Stuhl, liest Zeitung. Und die kleine Susanne steht vor ihm. Wir beginnen mit dem Satz, den Susanne gefunden hat. Die erzählte, ungeheuerliche Geschichte ist bereits geschehen, der Vater hat sich wieder seiner Zeitung zugewendet. Die Susanne auf der Bühne wird angehalten, diesen Satz zunächst einige Male hintereinander zu sagen, damit zu experimentieren, bis der Satz nicht mehr nur mechanisch aus ihr herauskommt, sondern mit Leben gefüllt ist.
Die "Susanne" auf der Bühne beginnt: Du bist ja krank, du Idiot. Du bist ja krank, du Idiot! Es dauert nur ein paar Sekunden, dann ist sie in einem emotionalen Fahrwasser, das schnell zum reißenden Wildbach wird. Wie ein Irrwisch tobt sie über die Bühne, immer um den "Vater" herum, immer diesen Satz wiederholend. Jetzt wird das Spiel frei gegeben; "Susanne" und der "Vater" können frei aufspielen. "Susanne" baut ihre Anschuldigung schnell zu einer multiplen, lautstarken, obszönen Anklage aus. Die "echte" Susanne im Publikum verfolgt das Geschehen mit aufgesperrtem Mund, ihr Gesicht glüht, die Tränen laufen ihr herunter. Später erzählt sie, daß das Miterleben dieser irrealen Szenerie auf der Bühne bei ihr spontan eine unerklärliche, aber deutliche seelische Entlastung bewirkt habe.
Der "Vater" auf der Bühne rechtfertigt sich defensiv, ebenfalls lautstark pöbelnd. Schnell ist die Situation festgefahren. Es wird nur noch rumgebrüllt, es gibt keine Bewegung, kein Sich-Annähern, kein Sich-Distanzieren. Nur Verstrickung.
Die Gruppenleiterin fragt nun die "echte" Susanne, ob sie bereit sei, ihre eigene Position auf der Bühne einzunehmen. Sie ist einverstanden. Der Satz hat immer noch Gültigkeit. Wieder beginnt das Spiel damit: "Du bist ja krank, du Idiot". Aber die echte Susanne ist nicht so expressiv wie zuvor ihr Double. Nur stockend und leise kommen die Sätze heraus. Das Spiel wird noch nicht freigegeben, sie soll diesen Satz noch oft sagen, bevor darüber entschieden wird, wie es weitergehen soll. Auch der "Vater" darf noch nichts sagen. Er soll diesen Satz "Du bist ja krank, du Idiot" nur hören. Susanne sagt ihn wohl noch zwanzigmal, dann läßt sie das "du Idiot" fort, sagt noch ein paarmal "Du bist ja krank", dann bricht sie wimmernd und schluchzend zusammen. Ihre Gesichtszüge zeigen Trauer und Schmerz. Die Inszenierung wird an dieser Stelle beendet.
Am nächsten Tag (wir sprechen nie unmittelbar nach den Inszenierungen über das Erlebte) berichtet Susanne, daß sie ein tiefgreifendes Aha-Erlebnis hatte, als sie dem fiktiven Vater auf der Bühne ihren Satz wieder und wieder sagte. Ihr sei plötzlich klargeworden, daß dieser spontan gefundene Satz, der zunächst nur polemische Abwehr war, eine einfache, schmerzliche Wahrheit enthielt, die sie nie zuvor so deutlich gefühlt habe: die Vergeblichkeit ihres Bemühens, vom Vater jemals die ersehnte Anerkennung und Zuneigung zu erhalten. Die fundamentale Begrenztheit des Vaters sei ihr schlagartig klar geworden. Ein Leben lang sei sie ihm hinterhergelaufen, um etwas zu bekommen, was nicht erhältlich war. Dieses Aha sei bitter. Sie fühle sich wie auf dem Boden der Tatsachen angekommen, verletzt, erschöpft, unendlich traurig und mit einer Ernüchterung, die sich irgendwie auch gut anfühle.
Dies ist ein einfaches, aber typisches Beispiel für das Procedere und die Wirksamkeit der Szenischen Re-Integration. Man muss übrigens nicht schwer traumatisiert sein, um die SRI für sich nutzen zu können: unfinished business is everybody's business. Und manche wohlkompensierte Schrecken der Vergangenheit in einer "normal" funktionierenden Person lösen sich erst aus dem Hintergrund, wenn der Gruppenprozess seine Dynamik entfaltet. Es ist jedoch nicht das Anliegen der SRI, "schlafende Hunde" zu wecken. Wir arbeiten grundsätzlich nur mit dem, was die Klienten präsentieren. Dennoch gibt es oft emotionale Kettenreaktionen, die überraschend in die Tiefe führen.
Ganz offensichtlich wirken verschiedene Aspekte des Settings zusammen:
a) die Außenansicht auf von Dritten gespielte emotional geladene, unabgeschlossene Szenen aus der eigenen Biographie, die die Betreffenden ad hoc einen ungekannten, neuartigen "point of view" relativ zur eigenen Erinnerung einnehmen läßt.
b) das aktive Darstellen der eigenen Person als Spielfigur und zwar v.a. unter Verwendung (Aussprechen) nie gesagter/nie gewagter, aber tief empfundener Mitteilungen an die betreffenden Repräsentanten auf der Bühne.
c) das aktive Darstellen (Rollenübernahme bzw. Rollentausch) der antagonistischen Konfliktpartner.
d) fehlende konkrete Erfahrungen werden auf der Bühne organisiert. In einem der oben geschilderten Susanne-Geschichte ähnlichen Fall wird der Vater auf der Bühne per Regieanweisung instruiert, seine offensichtlich vorhandene, aber nie klar und direkt kommunizierte (von der Tochter nie gehörte) Ablehnung zu äußern. In noch einem anderen ähnlichen Fall soll "der Vater" schließlich einlenken und um Verzeihung bitten. Und noch ein weiteres Beispiel: in einem Fall von schwerem sexuellem Mißbrauch durch den Vater, ringt sich der Spiel-Vater durch, dem Sohn nach jahrzehntelangem Leugnen endlich zu gestehen: Ja, ich habe es getan.
Es hängt wesentlich von der Erfahrung, Intuition und auch dem Einfallsreichtum der Spielleitung ab, diese im realen Leben der Betroffenen fehlenden Erfahrungen per Regieanweisung zu organisieren, sofern sie nicht von den Spielenden spontan hergestellt werden. Wer Einwände hinsichtlich der "Künstlichkeit" solcher Konstellationen hat: es geht zunächst darum, eine psycho- organismische Bahnung einer wichtigen, aber fehlenden Erfahrung in der betreffenden Person herzustellen. Dabei ist es zunächst egal, ob diese Bahnung nur im Spiel oder im "richtigen Leben" stattfindet.
Im oben skizzierten Beispiel ("Ja, ich habe es getan.") hatte die Spielerfahrung für den Sohn bahnbrechende Auswirkungen auf seine gesamte Befindlichkeit; er machte sich ruhig und "irgendwie ganz" auf den Heimweg und sah dem bevorstehenden und schon lange zuvor vereinbarten Gespräch mit dem Vater nun mit Gelassenheit statt mit Angst entgegen.
In einem anderen Fall galt es, die aufbrechende, mörderische reaktive Wut eines ca. 50jährigen Mannes auf seine Mutter (eins der zahlreichen wiederkehrenden Motive in der SRI) auf die Bühne zu bringen. Es war klar, daß die Wut so immens war, daß keine der anwesenden Frauen bereit sein würde, sich dieser Wut, auch nicht in der fiktiven Bühnensituation, auszusetzen. Also bat die Spielleiterin drei Frauen auf die Bühne. Aber auch das war nicht genug. Schließlich standen alle dreizehn anwesenden Teilnehmerinnen dem vor Wut und Hass schäumenden und berstenden Mann gegenüber, und nun stimmt das Kräfteverhältnis.
Eine Besonderheit weisen die im Verlauf einer üblicherweise tagelangen SRI-Session (meist über ein Wochenende) oft immer zahlreicher und drängender berichteten gewaltsamen und/oder sexuellen Übergriffe von Erziehungspersonen auf Kinder auf. Hier kann es nicht darum gehen, dem Kind einen Satz in den Mund zu legen, den es damals nicht hatte, aber heute als Erwachsener formulieren könnte. Wichtiger ist hier, die Erfahrung des Beschützwerdens zu organisieren, denn diese Erfahrung ist in einer solchen Konstellation regelmäßig das, was gefehlt hat. Je nachdem, wie groß dieses Erfahrungsdefizit in einer inszenierenden Person ist, sieht man komplexe Arrangements auf der Bühne heranwachsen: Familienmitglieder kommen zur Tür herein und lassen die Szene des Übergriffs auffliegen, oder Nachbarn schalten sich ein, Polizisten erscheinen, Mitarbeiter der Jugendbehörde marschieren auf. In einem Falle war es erforderlich, daß der Polizeipräsident und der Innenminister herbeieilten. In einem anderen Fall war es wichtig, daß die betreffende Teilnehmerin auf der Bühne miterlebte, wie der mißbrauchende Vater von einem Bataillon Polizisten abgeführt und ins Gefängnis geworfen wird.
Wem dies bizarr oder merkwürdig erscheint, den lade ich ein, ein paar SRI-Inszenierungen mitzuerleben. Die Logik komplexer und mitunter bizarr anmutender Inszenierungen ergibt sich aus der Notwendigkeit, die im Klienten fehlende innere Erfahrung quasi nachträglich zu implantieren (übrigens ein bevorzugtes Motiv in der Hypnotherapie Milton Ericksons). Eine ähnliche emotionale Wirkung können bekanntlich Literatur, (Kitsch-) Filme und Theaterstücke haben. Aber bis man den passenden Film gefunden hat, geht man besser zum SRI-Workshop und macht seine eigene Inszenierung.
Falls bisher der Eindruck entstanden sein sollte, bei der SRI-Arbeit handele es sich um eine schwerblütige, ernste, promblemorientierte Angelegenheit: das trifft nur zum Teil zu. Genauso zutreffend ist es, daß die inszenierenden Personen regelmäßig immense Erlebnisse von innerer Befreiung und Entlastung haben, was sich oft in spontaner Spielfreude entlädt. Und auch die Mitspieler haben oft viel Spaß dabei. Die Auswahl der vielen Nebenfiguren, die an solch einem Wochenende auf die Bühne gebeten werden, trifft auf fast magische Weise selten den Falschen. Ich habe es vorhin schon erwähnt: es braucht an einem SRI-Wochenende große Mengen von denkbar unterschiedlichen Vätern, Müttern, Großeltern, Geschwistern, Nachbarn, Polizisten und mitunter absonderlichen Nebenfiguren. Auch der liebe Gott wird gelegentlich auf die Bühne gerufen, ebenso der Teufel. Es entfaltet sich ein Panoptikum von prägnanten Figuren, die alle durch das Spiel auf der Bühne beseelt werden sollen; besondere schauspielerische Fähigkeiten sind nicht unbedingt erforderdlich: meistens "paßt" es spontan.
Zum besseren Verständnis der SRI ist es wichtig, die wesentlichen Unterschiede zu anderen szenisch arbeitenden Verfahren zu benennen. Kurz gesagt: es geht nicht um postulierte und aufzufindende bzw. wiederherzustellende "Ordnungen"; ebensowenig geht es um "Lösungen" für bestehende Probleme, Konfliktstrategien, Rollenspiele und dergleichen.
Zwar bestehen gewisse Ähnlichkeiten mit Morenos Psychodrama: jedoch liegen die Wurzeln der SRI in der Gestalttherapie, der Skan-Körperarbeit und Al Baumans Streaming Theatre. Es geht bei der Szenischen Re-Integration getreu ihrem körperorientierten Hintergrund ausschließlich darum, den in der organismischen Tiefe seit Jahren oder Jahrzehnten zurückgehaltenen oder eingefrorenen authentischen emotionalen Ausdruck zu lösen. Genau dort setzt die SRI-Arbeit in der Praxis auch an: im Zentrum der unerledigten "offenen Gestalt" bzw. der traumatischen Erfahrung. (Deshalb eignet sie sich auch nicht zum Experimentieren ohne entsprechend qualifizierte Gruppenleitung. Davon sei dringend abgeraten.) Diese emotionalen Befreiungen werden in der SRI oft dadurch initiiert, daß man ausspricht, was man in seinen kühnsten Träumen nicht gewagt hätte. Und auch dadurch, daß man zu hören bekommt, was man nicht für möglich gehalten hätte. Die Herauslösung des emotionalen Ausdrucks kann sowohl beim aktiven Spielen auf der Bühne, beim Zuschauen im Publikum oder auch mit Verzögerung erst nach einem solchen Workshop stattfinden. Herauslösung des eingefrorenen emotionalen Ausdrucks ist nicht in jedem Falle gleichzusetzen mit Expressivität. Es kann sehr stille, subtile emotionale Expansionen geben in einer Person; es muß nicht unbedingt laut werden.
Dabei ist die emotionale Lösung letzten Endes kein Selbstzweck; vielmehr gehen wir davon aus, daß kompletter Ausdruck und das dadurch initiierte verbesserte energetisch-emotionale "Fließgleichgewicht" zu einer veränderten Lebensweise im Sinne selbstregulatorischer Prozesse
führt. Kompletter emotionaler Ausdruck macht den Weg frei für neue Befindlichkeiten: aus Hass kann dann wieder Liebe werden.
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Loil Neidhöfer, Verfasser von "Intuitive Körperarbeit", ist seit vielen Jahren als Gestalt- und Körperpsychotherapeut tätig. Er ist Mit-Begründer der SkanAkademie Hamburg und - Szenenwechsel - arbeitet als Autor und Regisseur für eine freie Theatergruppe der Hamburger Off- Szene.
"Die Szenische Re-Integration hat sich in mehr als 20jähriger psychotherapeutischer Berufspraxis nach und nach herausdestilliert. Plötzlich war sie da und hat sich dann rasant entfaltet. Wir haben immer schon mit dem setting Bühne-Publikum gearbeitet; es war extrem nützlich für unsere körperorientierte Gruppenarbeit. Aber mit dieser klar umrissenen, intuitiv handhabbaren und sehr variablen Methodik ist die SRI eine meines Wissens nie dagewesene Möglichkeit des szenischen Arbeitens mit biographisch bedeutsamen persönlichen Themen."